Sagen wir, wir sprechen über Herrn F.. Sagen wir, Herr F. ist 44 J. alt, arbeitet als Architekt seit Jahren in einem renommierten Architekturbüro. Er genießt Wertschätzung von Seiten der leitenden Architekten, seinen KollegInnen und MitarbeiterInnen.
Herr F. weiß selbst um seine Kompetenzen – seine sehr guten Arbeitsleistungen, seine Belastungsfähigkeit und seine gute Kommunikationsfähigkeit. Mit der Leitung und mit KollegInnen kann er anstehende Entscheidungsfindungen realitäts- und zielorientiert diskutieren. Die Umsetzung von Planungen kann Herr F. freundlich, klar und verantwortungsbewusst gegenüber MitarbeiterInnen kommunizieren.
Vor einem Jahr wurde der Arbeitsbereich von Herrn F. erweitert. Ihm wurde die Kunden-Betreuung und -beratung im schwierigen Situationen (interne Planungsprobleme, Probleme mit Ämtern, Kontakt zu Juristen usw.) übertragen, was damals durchaus von Herrn F. auch erwünscht war. Seit ca. einem Vierteljahr fällt Herrn F. auf, dass er starke Stressgefühle vor einem solchen Termin bekommt, sich vor dem Termin und währenddessen stark unsicher fühlt. Dabei hat er festgestellt, dass es egal ist, wer sein Gegenüber ist – das störende Unsicherheitsgefühl stellt sich ein. Weder fühlt er sich seiner Einschätzungen der Kundensicht, seines Wissensstandes noch seiner Gesprächskompetenz sicher. Nach dem Termin findet er schnell in eine realistische Einschätzung seiner Kompetenz zurück.
Herr F. versteht diese seine innere Entwicklung nicht und sie ist auch nicht aus seiner gegenwärtigen beruflichen und auch privaten Situation heraus zu verstehen.
Auch wenn dieser Fall völlig konstruiert ist, so will ich daran doch etwas Zentrales deutlich machen. An erster Stelle ist immer zu analysieren, ob es in der gegenwärtigen realen Situation Faktoren gibt, die diese emotionale Veränderung erklären. Dabei sind mögliche Ursachen auf den verschiedenen Ebenen zu beleuchten – gibt es aktuelle Stressoren im Privaten, möglicherweise im gesundheitlichen Bereich, oder gibt es belastende Entwicklungen im beruflichen Bereich. Bei allem ist vom Bewusstem aus auch der Blick auf bisher nicht Bewusstes zu lenken.
Ist das nicht der Fall oder nichts Erklärendes für dieses Maß des Stresses, guckt man gemeinsam auf zeitliche Hintergründe, sowohl in die Geschichte dieses Architekturbüros als auch die „Geschichte“ von Herrn F., seine familiäre Herkunftsgeschichte. Und in diesem Fall könnte es so sein, dass Herr F. über seinen neuen zusätzlichen Arbeitsbereich unbewusst an Konfliktsituationen mit seinem Bruder erinnert wird. Konstruieren wir dazu, dass sein Bruder 5 Jahre jünger als er ist, ihn (Herrn F.) in der Kindheit ständig ärgerte und dennoch stets von seinen Eltern in Schutz genommen wurde.
Obwohl jemand in der Gegenwart über ein hohes Maß an privater und beruflicher Kompetenz verfügt, kann es passieren, dass belastendes emotionales Erleben aus der Kindheit in der Gegenwart „auftaucht“. Es gibt zwei Ursachen für dieses Auftauchen:
1. Das erlebte Übermaß an belastenden Gefühlen in der Kindheit (Enttäuschung, Traurigkeit, Wut, Hilflosigkeit u. a.) und
2. Die unbewusste Gleichstellung einer bestimmten aktuellen realen Situation mit der damaligen Kindheitssituation.
Der gesamte Vorgang ist eine selektive Stress-Reaktion, die den Berufsalltag deutlich erschweren kann.
In der Beratung ginge es in diesem fiktiven Fall um das Aufdecken der Zusammenhänge, neben dem Verstehen vor allem um einen einfühlsamen Rückblick auf die Kindheitserfahrungen und um Strategien, sich im Hier und Jetzt von diesen Mechanismen zu lösen.
Wenn die emotionalen Belastungen in der Gegenwart, hier im beruflichen Alltag zu groß sind bzw. werden, wäre therapeutische Unterstützung angeraten und hilfreich.
Marie-Luise Kuhlenbeck
Technologie- und Gründerzentrum
Oldenburg (TGO)
Festnetz: 0441 361 16 – 776
Mobil: 0175 76 80 716